SK 2007 357 - Verletzung der Fürsorgeoder Obhutspflicht (Leitentscheid)
SK-Nr. 2007/357
Urteil der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern,
unter Mitwirkung von Oberrichter Righetti (Präsident i.V.), Oberrichter Räz und Oberrichter Cavin sowie Kammerschreiberin Koller-Tumler
vom 22. Februar 2008
in der Strafsache gegen
A.
amtlich vertreten durch Fürsprecher S.
1.
Angeschuldigter/Appellant
B.
amtlich vertreten durch Fürsprecher I.
Angeschuldigte/Appellantin
Generalprokuratur des Kantons Bern
Anschlussappellantin
wegen einfacher Körperverletzung eines Kindes unter Obhut, mehrfach begangen, etc. bzw. Verletzung der Fürsorgeund Erziehungspflicht
Regeste
Indem B. nichts unternommen hat, um die Kinder vor ihrem Vater zu schützen, obwohl sie dazu in der Lage gewesen wäre, hat sie den Tatbestand des Art. 219 StGB erfüllt. Durch ihr pflichtwidriges Nichteinschreiten gegen die übermässige Züchtigung der Kinder durch ihren Ehemann bewirkte sie eine konkrete Gefahr für die längerfristige physische Entwicklung ihrer Söhne (E. II. C. 3.).
Eine Geldstrafe ist nicht gerechtfertigt, weil bei einer Verletzung der Fürsorgeoder Erziehungspflicht im Eltern-/Kindverhältnis die Sanktionierung in hohem Masse vom Gesichtspunkt der präventiven Effizienz geprägt sein muss. Der Angeschuldigten ist mit aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, dass es sich bei dem von ihr begangenen Delikt nicht um eine innerfamiliäre Angelegenheit handelt, bei der die staatliche Einmischung schlimmstenfalls mit einer Geldzahlung abgegolten werden kann (E. III. 4. b.).
Redaktionelle Vorbemerkungen:
Die Vorinstanz hat A. der mehrfachen einfachen Körperverletzung eines Kindes unter Obhut, der mehrfachen Drohung, der mehrfachen Nötigung sowie der Verletzung der Fürsorgeoder Erziehungspflicht, alles zum Nachteil der Kinder X. und Y., schuldig erklärt und ihn verurteilt zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten unter bedingtem Aufschub einer Teilstrafe von 18 Monaten. Die Ehefrau B. wurde von der Vorinstanz freigesprochen vom Vorwurf der Mittäterschaft, evtl. Gehilfenschaft, der versuchten schweren Körperverletzung, ev. schweren Körperverletzung, ev. einfachen Körperverletzung eines Kindes unter Obhut, sowie der einfachen Körperverletzung eines Kindes unter Obhut. Hingegen wurde sie schuldig erklärt der mehrfachen Verletzung der Fürsorgeoder Erziehungspflicht zum Nachteil der Kinder X. und Y. und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil erklärten beide (A. beschränkt auf die Strafzumessung und B. beschränkt auf den Schuldspruch, den Strafpunkt sowie die Kostenfolge) die Appellation und die Generalprokuratur erhob darauf Anschlussappellation beschränkt auf die Sanktion.
Auszug aus den Erwägungen:
( )
II. SACHVERHALT, BEWEISWÜRDIGUNG, RECHTLICHES
(...)
C. Bezüglich B.
(...)
3. Erwägungen der Kammer
(...)
Insgesamt kommt die Kammer zum Schluss, dass B. von den übermässigen Züchtigungen der Kinder gewusst hat wobei offen bleiben kann, ob diese tatsächlich wie die Vorinstanz festgehalten hat „praktisch täglich“ vorgekommen sind, „nur“ wenn schlechte Noten vorgewiesen bzw. wenn Fehler bei den Hausaufgaben gemacht wurden, denn so anders ist sowohl die Häufigkeit als auch die Intensität, die sich noch mit einem allfälligen elterlichen Züchtigungsrecht in Einklang bringen lassen, bei weitem überschritten worden (vgl. zu den Grenzen elterlicher Einwirkung BGE 129 IV 216 ff. 1 und Urteil 6S. 178/2005). Wie die Vorinstanz zur Recht festgestellt hat, wäre B. verpflichtet gewesen ihre Kinder zu schützen und etwas gegen das von A. aufgebaute Angstregime zu tun. Dass sie allein durch ihre Passivität den Tatbestand bereits verwirklicht hat, trifft zu, denn obwohl B. unter der despotischen Natur ihres Mannes auch gelitten haben mag, wäre sie als gutausgebildete, deutsch sprechende Ausländerin durchaus fähig und in der Lage gewesen, Hilfe anzufordern nur schon anzunehmen. Zu Recht kreidet ihr die Vorinstanz an, dass sie aus falsch verstandener Loyalität gegenüber ihrem Mann im Jahre 2004 nicht einmal gegenüber der (zur Verschwiegenheit verpflichteten) Kinderschutzgruppe die Wahrheit gesagt hat. Indem B. nichts unternommen hat, um die Kinder vor ihrem Vater zu schützen, obwohl sie dazu in der Lage gewesen wäre, hat sie den Tatbestand des Art. 219 StGB erfüllt2. Durch ihr vorsätzliches pflichtwidriges Nichteinschreiten gegen die übermässigen Züchtigungen ihres Ehemannes bewirkte sie eine konkrete Gefahr für die längerfristige physische Entwicklung ihrer Söhne. Dadurch dass sie sich verbal zwar gegen Körperstrafen aussprach und die Kinder selber auch nie geschlagen hat, letztlich ihren Mann in seinen eklatant falschen Erziehungsmethoden aber immer unterstützte und sich immer vor ihn und nie wirklich auf die Seite der Kinder stelle, trug sie darüber hinaus auch zur Gefährdung der psychischen Entwicklung der Knaben bei.
III. STRAFZUMESSUNG
(...)
4. Konkrete Strafzumessung, speziell betr. Freiheitsstrafe
a. A.
(...)
b. B.
Die Vorinstanz hat auch mit Bezug auf B. die relevanten Tatund Täterkomponenten korrekt aufgezeigt und davon ausgehend sowie unter Mitberücksichtigung des Eindrucks, den sie von allen Aussagepersonen und insbesondere von den Angeschuldigten unmittelbar selber gewonnen hat, B. zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt. B. beantragt oberinstanzlich einen Freispruch, während der Generalprokurator die Erhöhung der Freiheitsstrafe von 10 auf 12 Monate beantragt. Zwar erscheine das Verschulden der Mutter als um einiges weniger gravierend als dasjenige des Vaters, es sei indes auch nicht zu bagatellisieren. Da zweifellos ein schwerer Fall von Art. 219 StGB vorliege, und zwar gegenüber zwei Kindern, erscheinen zwölf Monate Freiheitsstrafe deutlich mehr angemessen als die von der Vorinstanz verhängten zehn Monate.
Das Verschulden von B. richtig zu gewichten und dafür eine angemessene Strafe auszusprechen, ist nicht einfach. Einerseits wiegt ihr Tatverschulden mit Blick auf den grossen, nicht wieder gutzumachenden Schaden, der den Kindern erwachsen ist, schwer. Andererseits ist schwierig abzuschätzen, ob es sich bei der Appellantin, die noch vor oberer Instanz behauptet, die Züchtigungen der Kinder hätten sich im normalen Rahmen bewegt und sie habe nie etwas von weitergehenden Schlägen mitbekommen, wirklich um die uneinsichtige Person handelt, die das Gewaltregime ihres Ehemannes überall und immer deckt. Obwohl sie diesen Eindruck erweckt (noch in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung3 hat sie angegeben es sei alles bestens, ihr Mann habe einen guten Charakter, er werde nicht schnell wütend, sie habe ihn noch nie gewalttätig erlebt, etc.), gibt es doch auch glaubhafte Aussagen der Kinder, die ein ganz anderes Bild zeigen, nämlich das einer Ehefrau, die sich aus Angst vor Repressalien des Ehemannes nicht traut, sich für die Kinder einzusetzen. Angesichts dieser Ausgangslage erscheint eine Erhöhung des Strafmasses nicht angebracht und die Kammer bestätigt das von der Vorinstanz verhängte Strafmass.
Wenn das Gericht vor der Frage steht, welche Strafart zu wählen ist, hat es von der konkreten Strafdrohung des Tatbestandes auszugehen. In der Regel werden Vergehen mit Freiheitsoder Geldstrafe bedroht (vgl. Art. 10 Abs. 3 StGB). Das ist auch bei der Verletzung der Fürsorgeoder Erziehungspflicht der Fall (Art. 219 StGB). Während der Gesetzgeber mit Art. 41 StGB für Strafen bis zu sechs Monaten eine gesetzliche Prioritätenordnung zu Gunsten nicht freiheitsentziehender Sanktionen eingeführt hat (vgl. auch Art. 34 Abs. 1 und Art. 40 Satz 1 StGB), geht diese Subsidiarität für den Bereich zwischen 6 und 12 Monaten aus dem Gesetzestext nicht hervor. Hier hat das Gericht bei der Wahl der Sanktionsart als wichtige Kriterien die Zweckmässigkeit einer bestimmten Sanktion, ihre Auswirkungen auf den Täter und sein soziales Umfeld sowie ihre präventive Effizienz zu berücksichtigen; (BGE 134 IV 82 ff. mit Hinweis auf Franz Riklin, Neue Sanktionen und ihre Stellung im Sanktionensystem, in: Stefan Bauhofer/Pierre-Henri Bolle [Hrsg.], Reform der strafrechtlichen Sanktionen, Zürich 1994, S. 168; ders., Zur Revision des Systems der Hauptstrafen, ZStrR 117/1999 S. 259).
Unter Berücksichtigung aller Umstände erachtet die Kammer eine Freiheitsstrafe als dem konkreten Verschulden angemessen. Eine Geldstrafe ist vorliegend nach Ansicht der Kammer vorab deswegen nicht gerechtfertigt, weil gerade bei einer Verletzung der Fürsorgeoder Erziehungspflicht im Eltern-/Kindverhältnis die Sanktionierung in hohem Masse vom Gesichtspunkt der präventiven Effizienz geprägt sein muss. B. - die bereits wegen Begünstigung ihres Mannes vorbestraft ist4 ist mit aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, dass es sich bei dem von ihr begangenen Delikt nicht um eine innerfamiliäre Angelegenheit handelt, bei der die staatliche Einmischung schlimmstenfalls mit einer Geldzahlung abgegolten werden kann. Zwar ist ihre Legalprognose nicht negativ, doch zeigt gerade ihre an den Tag gelegte Einsichtslosigkeit (sei sie nun real bloss vorgetäuscht), dass sie den Stellenwert der Kinderrechte nach wie vor nicht richtig zu gewichten weiss. Mit dem Aussprechen einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten wird somit die zweckmässigste Strafart gewählt und gleichzeitig dem Präventivgedanken von Art. 19 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UN-KRK SR 0.107) nachgelebt.5
Da bei B. die objektiven und die subjektiven Voraussetzungen zur Gewährung des bedingten Strafvollzugs gegeben sind, ist die Freiheitsstrafe wie auch vom Generalprokurator beantragt (vgl. pag. 1069) bedingt vollziehbar zu erklären. Gestützt auf Art. 44 Abs. 1 StGB wird die Probezeit auf 3 Jahre festgesetzt.
(...)